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Die Stunde der Introvertierten

Stille Wasser sind tief. Das ist eine Weisheit, die jeder kennt. Sie besagt, dass hinter stillen, ruhigen und zurückhaltenden Menschen mehr steckt, als vielleicht auf den ersten Blick erwartet wird. Dass Stille nicht unbedingt ein Zeichen von Langweiligkeit, Arroganz oder Distanziertheit sein muss, sondern auch etwas Positives mit sich bringen kann. 


Das scheinen einige Menschen in der heutigen Zeit jedoch vergessen zu haben. Stille Wasser gelten nicht mehr als tief, sondern als ohne Kohlensäure – mit anderen Worten: als langweilig. Besonders in Zeiten von Instagram, Twitter und LinkedIn wird still sein nicht als Stärke, sondern als Schwäche gesehen. Introvertierten Menschen wird eingeredet, dass sie sich verändern sollen, dass ihre Eigenschaften nicht genug sind. 

Dabei können gerade diese von Vorteil sein. Besonders in der jetzigen Situation, in dem alle Menschen so wenig sozialen Kontakt wie möglich haben sollen und viel mit sich und ihren Gedanken alleine sind, kann die Gesellschaft womöglich etwas von den Introvertierten lernen; anfangen das Potenzial der Leisen zu schätzen. 


Denn meist gelten laute, gesellige und risikofreudige Menschen als das erstrebenswerte gesellschaftliche Ideal. Susan Cain, Autorin des Bestsellers ,,Quiet‘‘, spricht von einem ,,extrovertierten Ideal‘‘. Extrovertierte werden laut einer Studie von Howard Giles aus dem Jahr 1994 als kompetenter, sympathischer, klüger, besser aussehend und interessanter wahrgenommen. Gleiches gilt auch in der Berufswelt. Auch hier haben Extrovertierte die besseren Karten. Sie schaffen es Studien zufolge mit höherer Wahrscheinlichkeit in Führungspositionen. 


Dabei ist ein Drittel der Bevölkerung introvertiert. Das sollte aber kein Nachteil sein. Denn in Bezug auf Konzentration, Sorgfalt, Analyse, Ruhe, Einfühlungsvermögen, Beharrlichkeit und Tiefgang sind introvertierte Menschen tendenziell sogar im Vorteil. Sie lassen sich weniger von sozialer Interaktion ablenken und konzentrieren sich vermehrt auf Aufgaben und Ziele. Sorgfältig beobachten und analysieren sie Probleme und präsentieren erst dann eine fertige Lösung. Zudem hören sie lieber anderen zu, als selbst zu reden. Das kann in vielen Berufen hilfreich sein. 


Eine Bekannte von mir ist beispielsweise als Chefassistentin tätig. Jeden Tag telefoniert sie mit den verschiedensten Menschen, plant und organisiert den Arbeitsalltag ihres Chefs. Sie leistet die Arbeit im Hintergrund, die oftmals von anderen nicht wahrgenommen wird. Besonders in stressigen Situationen muss sie ruhig bleiben, sich selbst zurücknehmen und die Konzentration behalten. Das kann sie und leistet folglich gute Arbeit. 


Aus diesem Grund war sie sehr verwundert, als sie ihr Chef vor ein paar Jahren ansprach, ob sie nicht ein Training machen wollen würde, um lauter und energischer auftreten zu können. Denn diese Eigenschaften waren für ihre Arbeit nicht unbedingt nötig bzw. teilweise gar nicht hilfreich. Sie entschied sich ihn darauf aufmerksam zu machen, dass man nicht laut werden muss, um sich durchsetzen zu können. Er sah es ein und lernte in der nächsten, nervenaufreibenden Zeit, ihre ruhige und zurückhaltende Art zu schätzen. 


Aber nicht nur Assistent*innen oder Personen, die anderen zuarbeiten, können mit ihrer introvertierten Art punkten. Auch in anderen Positionen kann es von Vorteil sein, wie Introvertierte, eine Situation erst gründlich zu analysieren und zu beobachten, bevor man seine Meinung mit anderen teilt. Als beste Beispiele dafür gelten Bundeskanzlerin Angela Merkel, der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck oder Bill Gates. Sie zeigen, dass auch eine stille Art viel bewirken kann. 


Aber auch der Ingenieur Steve Wozniak wird in diesem Zusammenhang oft erwähnt. Er lebte zurückgezogen und war nach eigenem Bekunden ein typischer ,,Eigenbrötler‘‘. So richtete er seine Aufmerksamkeit nicht auf das Sozialisieren, sondern verbrachte viel Zeit damit sich auf seine Arbeit zu konzentrieren: den ersten Computer für den Hausgebrauch. Ohne ihn hätte es die Apple Computer Company nie gegeben. 


Das zeigt, dass die Berufswelt introvertierte Menschen braucht. Aber nicht nur im Beruf, sondern auch im Alltag sollten die Eigenschaften introvertierter Menschen häufiger geschätzt werden. Denn was ist falsch daran Menschen lieber zuzuhören als selber zu reden? Viel über sich selbst nachzudenken, kritisch zu sein und sich deshalb seinen Schwächen und Stärken bewusst zu sein? Sich vielleicht nicht mit jedem Menschen anzufreunden, sondern nur wenige, tiefe Freundschaften zu haben? 


Extrovertierte Menschen können sich vielleicht davon etwas abschauen. Gerade in der aktuellen Situation können sie die Zeit allein, die durch das Kontaktverbot entsteht, nutzen, um sich selbst und ihre Umwelt zu reflektieren. Die Stille als Moment sehen, um ihren Akku aufzuladen und sich auf wesentliche Aufgaben und Ziele zu konzentrieren. Wie Introvertierte erst einmal zu beobachten und Ideen für sich zu erarbeiten, bevor sie mit anderen geteilt werden. 


Natürlich können introvertierte Menschen aber auch etwas von den extrovertierten lernen. Besonders gute Präsentationen zu halten, auch bei Konferenzen das Wort zu ergreifen und offen auf andere Menschen zuzugehen, sollten sich Introvertierte antrainieren, um in der heutigen Berufswelt und auch im Alltag bestehen zu können. Ihre introvertierten Eigenschaften müssen sie trotzdem nicht ablegen - abgesehen davon, dass dies meist auch nicht geht. Denn Intro- bzw. Extrovertiertheit ist nach bisherigen Erkenntnissen angeboren.


Folglich kann eine introvertierte Person nicht zu einer extrovertierten werden – und auch nicht andersherum. Das ist auch gut so. Es ist wichtig, dass die Gesellschaft das sieht und beginnt beide Potenziale anzuerkennen - auch die von Introvertierten. Denn jetzt ist ihre Stunde. 





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