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Unser letzter Tag 

  • marieflora
  • 14. März
  • 4 Min. Lesezeit

Schon seit Wochen bin ich innerlich nervös. Ich warte darauf, dass das Leben mir den Boden unter den Füßen wegzieht. Doch noch ist es nicht so weit. 


Mit einem mulmigen Gefühl mache ich mich auf den Weg zu meinem Großvater. Gemeinsam mit meiner Mutter, meiner Schwester und meinen Cousinen wollen wir ins Krankenhaus fahren. Seit nun fast einem Monat ist meine Oma dort in Behandlung.


Eigentlich ist sie wegen eines Hautausschlags eingeliefert worden. Doch dann wurden bei ihr Krankenhauskeime festgestellt, und als ob das nicht schon genug für eine 86-jährige Rentnerin wäre, kam noch eine doppelte Lungenentzündung hinzu. Aber meine Oma ist stark, sie kämpft. Sie liebt ihr Leben, sie hat einen tollen Mann, zwei Kinder und vier Enkelinnen, deren Leben sie so lange wie möglich begleiten möchte. 


Und anfangs scheint sie auch Glück zu haben: ihr Zustand verbessert sich. Aber nur, um sich ein paar Tage später erneut zu verschlechtern. Sie weiß, dass es nicht gut für sie aussieht. Und ich auch, obwohl ich das natürlich nicht wahrhaben möchte. 


,,Eigentlich ist sie ein positiver Mensch”


Trotzdem kommt es für mich überraschend, als sie uns heute am Telefon mitteilt, dass sie sich entschieden hat, sich nicht mehr behandeln zu lassen. Sie möchte nicht mehr, zu stark sind die Schmerzen und zu gering die Hoffnung auf Besserung.


Eigentlich ist meine Oma eine positive und fröhliche Person, sie ist frech, lacht viel, redet ununterbrochen - sie ist ein echtes Unikat. Doch seit ein paar Tagen ist sie vergleichsweise still geworden. Sie hat viele Träume, schöne von ihrer oder unserer Kindheit, aber auch schreckliche, vom Zweiten Weltkrieg oder von ihrem verstorbenen Bruder. 


Das machen die Schmerzmittel, erklärt mir meine Mutter. Ich glaube aber auch, dass sie in diesen Momenten ihr Leben noch einmal Revue passieren lässt - mit all den schönen, aber auch den traumatischen Zeiten. 


Ein Leben voller Wendungen


Meine Oma ist 1938 in Berlin geboren. Sie ist in Tegel aufgewachsen und zog mit ihrer Familie dann ins damalige Schlesien (heute Polen). Während des Krieges wurde sie mit ihrem Bruder nach Bayern verschickt, damit sie dort unterkommen und ernährt werden konnten. Zu einem kleinen Bauernhof, davon erzählt sie oft. Wie sie und ihr Bruder Horst zusammengehalten haben, wie sie beide später ihre Mutter versteckt haben, damit die Soldaten sie nicht finden und ihr etwas antun würden.


Meine Oma hat aber auch jede Menge Gutes in ihrem Leben erlebt. Mit 16 Jahren lernte sie zum Beispiel ihre große Liebe kennen, ,,Werni”, wie sie ihn noch heute liebevoll nennt. Über 70 Jahre sind sie jetzt schon ein Paar, haben zwei Töchter und uns Enkelinnen. Die Familie ist der ganze Stolz meiner Oma. Wenn man so will, ihr Vermächtnis. Schon seit einiger Zeit erzählt sie mir immer wieder, dass sie so zufrieden ist mit ihrem Leben. Und ich kann das verstehen. Was möchte man mehr als zu lieben und geliebt zu werden? 


Und wie geliebt meine Oma wird, das sieht man heute. Die ganze Familie hat sich auf den Weg gemacht, um sie noch ein letztes Mal zu sehen. Alle sitzen wir um ihr Krankenhausbett, berühren ihre Hand, ihr Bein, geben ihr einen Kuss, streicheln ihre Haare, und hören vor allem gebannt zu. Denn heute ist meine Oma noch einmal zu ihrer Bestform aufgelaufen. 


Worte, die heilen


Sie erzählt viele Geschichten aus unserer Kindheit. Sie fängt an zu singen, sie hat so eine tolle Stimme: Passioniert singt sie laut Lieder aus ihrer Kindheit, von denen sie noch jede Strophe weiß, Schlager, die französische Nationalhymne. Sie zitiert aus Gedichten und wenn ihr der genaue Wortlaut nicht mehr einfällt, probiert sie so beharrlich weiter, bis sie das ganze Gedicht wieder fehlerfrei vortragen kann. 


Als sie eine kurze Pause macht, beginnt meine Schwester vorzulesen. Sie hat ein Märchenbuch mitgebracht und meine Oma hat sich die Geschichte der kleinen Meerjungfrau gewünscht. Ich hatte bis dahin vergessen, dass die Geschichte in der Nicht-Disney-Version so traurig ist. Aber egal, jetzt lauschen wir alle den Worten meiner Schwester. 


Wie in Trance


Sie liest vor, wie die kleine Meerjungfrau stirbt, verpufft und zum Schaum der Wellen wird. Ich werde traurig, auch meine Oma scheint einen Moment lang innezuhalten. Es wird still im Raum. Dann fragt meine Oma: Möchte auch jemand ein Flutschfinger-Eis? Seit Tagen hat meine Oma nichts gegessen. Dass sie gerade jetzt ein Eis essen möchte, dass ich so oft in meiner Kindheit gegessen habe, amüsiert mich. 


Meine Schwester kauft mehrere Flutschfinger und unter Tränen essen wir das Eis. Wir lachen, wir weinen. Es ist wie in einem Film. Die Zeit vergeht wie im Flug. Wir sind alle wie in Trance. Es ist surreal, wenn man bedenkt, was sie uns vor ein paar Stunden mitgeteilt hat. 


Die Sonne geht langsam unter. Der Himmel färbt sich rot, die letzten Sonnenstrahlen fallen durch die Jalousie des Fensters. Wie toll die Natur ist, wie großartig jeder Sonnenuntergang, denke ich dabei. Ich genieße den Moment und nehme mir vor, kleine Sachen wie diese auch in Zukunft mehr wertzuschätzen. 


Wir Cousinen bleiben noch bis 10 Uhr nachts, dann verabschieden wir uns. Meiner Oma geht es nicht gut, wir wollen sie nicht überfordern. Natürlich wäre ich gern noch länger geblieben, aber für mich wird die Zeit mit ihr niemals genug sein. Ich habe mein Bestes gegeben und ihr all das gesagt, was sie unbedingt wissen muss. Wie viel sie mir geholfen hat und wie viel sie mir bedeutet. Meine Mutter und mein Opa bleiben bei ihr - bis zum Ende. 


Das große Privileg


Auch wenn es komisch klingen mag, ich erinnere mich gern an diesen Tag. Denn er war ein großes Privileg, das nicht viele Menschen haben. Ein letzter gemeinsamer Tag, den letzten Tag mit seinen Liebsten zu verbringen, was könnte man sich mehr wünschen? 


Meine Oma hat mich während meines ganzen Lebens und gerade im letzten Jahr gelehrt, dass ein zufriedenes Leben möglich ist und dass jeder und jede seine ganz eigene Version davon hat. Sie hatte keine große Karriere oder viel Geld. Das brauchte sie auch nicht. Sie hatte ein Leben voller Liebe, viel gemeinsamer Zeit mit ihrem Lebenspartner, ihrer Familie und den vielen Freunden und Freundinnen - die sie noch bis ins hohe Alter hatte. Und dieser Gedanke lässt mich trotz all der Trauer um sie heilen. 




*Eine sehr unvollständige Zusammenstellung aus dem Leben meiner Oma, Brigitte Schönrock.



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